2 Überblick über die Finanzierungstheorie22
Goldene Finanzierungs- bzw. Bilanzregel54), berücksichtigt man heute die Daten des ganzen
Jahresabschlusses, insbesondere der Gewinn- und Verlustrechnung (z. B. Cashflow, Umsatzkennzahlen). Dies zeigt den Wandel vom statischen, aus der Bilanz ableitbaren Liquiditätsbegriff hin zur Interpretation der Liquidität als einem dynamischen und zahlungsstrombezogenen Vorgang. Da sich jedoch unbestritten keine Kennzahl allein zur Prognose der
Erfolgssituation eignet, werden mehrere, unterschiedlich gewichtete Kennzahlen in Trennfunktionen miteinander verknüpft.55
In der Finanzplanung wird die Notwendigkeit der eigenständigen Erfassung der Zahlungsströme herausgestellt,56 da die Existenz einer Unternehmung von der Erhaltung der Zahlungsfähigkeit abhängig ist. Durch Aufstellung von kurz-, mittel- und langfristigen Finanzplänen kann Zahlungsengpässen frühzeitig entgegengewirkt bzw. können überschüssige
Mittel ertragbringend angelegt werden.57 Modelle, die die Planung der unsicheren Zahlungseingänge ermöglichen, sind z. B. das Kassenhaltungsmodell und die Verweilzeitverteilung, wobei im zweiten Fall die Einzahlungen aus den Umsatzerlösen durch auf Erfahrung
beruhende Wahrscheinlichkeiten der Inanspruchnahme von Zahlungszielen geschätzt werden.58
2.3 Die neuere Finanzierungstheorie
2.3.1 Vorbemerkungen
Bei der neueren Finanzierungstheorie, insbesondere bei der Kapitalmarkttheorie, werden die
Ziele der Kapitalgeber und -nehmer (A) analysiert und in den Marktzusammenhang (C)
unter weitgehender Vernachlässigung des Übertragungsvorgangs (B) gebracht. Die Zielsetzungen werden auf Rendite-Risiko-Überlegungen beschränkt. Der zahlungsstromorientierte
Finanzierungsbegriff59 führt zur Interpretation der Finanzierungs- und Investitionsvorgänge
als spiegelbildliche Aktivitäten. Eine getrennte Betrachtung dieser Vorgänge ist nur dann
möglich, wenn auf dem Kapitalmarkt alternativ Sach- und Finanzinvestitionen vorgenom-
54 Siehe dazu z.B. Härle, Dietrich: Finanzierungsregeln. In: Handwörterbuch der Finanzwirtschaft,
hrsg. von Hans E. Büschgen, Stuttgart 1976, Sp. 483 – 491; zur Darstellung verschiedener Kennzahlen und zur Kritik daran siehe Bieg, Hartmut: Kapitalstruktur- und Kapital-
Vermögensstrukturregeln. In: Wirtschaftswissenschaftliches Studium 1993, S. 598-604.
55 Vgl. Steiner, Manfred/Kölsch, Karsten: Finanzierung – Zielsetzungen, zentrale Ergebnisse und
Entwicklungsmöglichkeiten der Finanzierungsforschung. In: Die Betriebswirtschaft 1989, S. 414;
vgl. Bieg, Hartmut/Kußmaul, Heinz: Investitions- und Finanzierungsmanagement. Band III: Finanzwirtschaftliche Entscheidungen. München 2000, Abschnitt 3.2.
56 Vgl. Perridon, Louis/Steiner, Manfred: Finanzwirtschaft der Unternehmung. 14. Aufl., München
2007, S. 18.
57 Vgl. Bieg, Hartmut/Kußmaul, Heinz: Investitions- und Finanzierungsmanagement. Band III:
Finanzwirtschaftliche Entscheidungen. München 2000, Abschnitt 1.1.
58 Vgl. Franke, Günter/Hax, Herbert: Finanzwirtschaft des Unternehmens und Kapitalmarkt.
5. Aufl., Berlin u.a. 2004, S. 130.
59 Vgl. dazu Bieg, Hartmut/Kußmaul, Heinz: Investition. 2. Aufl., München 2009, Abschnitt 1.3.2.
2.3 Die neuere Finanzierungstheorie 23
men werden können (vollkommener Kapitalmarkt). Auf dem unvollkommenen Kapitalmarkt müssen Finanzierungs- und Investitionsentscheidungen simultan getroffen werden.
2.3.2 Einwertige Ansätze
2.3.2.1 Einwertige Ansätze auf dem vollkommenen Kapitalmarkt
Spiegelbildlich zu den Investitionen beginnen Finanzierungen mit einer oder mehreren
Einzahlungen, denen eine oder mehrere Auszahlungen folgen. Jede Finanzierungsalternative
lässt sich so durch eine Zahlungsreihe charakterisieren, auf die – unter der Annahme der
Sicherheit – die aus der Investitionsrechnung bekannten Methoden (z. B. Kapitalwertmethode und Methode des internen Zinsfußes) anwendbar sind. Anhand des jeweils betrachteten quantitativen Entscheidungskriteriums lassen sich i. Allg. eindeutige Handlungsempfehlungen bezüglich der Wahl der Finanzierungsalternative ableiten.
Unsichere Erwartungen fließen u. a. in die beiden folgenden Ansätze ein. Die Sensitivitätsanalyse bestimmt durch systematische Variation der unsicheren Zahlungsströme (bzw.
der sie determinierenden Einflussgrößen) die Auswirkungen auf das Entscheidungskriterium.60 Die Risikoanalyse ermittelt aus den sicheren und unsicheren Zahlungsströmen eine
Wahrscheinlichkeitsverteilung des Entscheidungskriteriums,61 auf deren Grundlage der
Entscheidungsträger dann seine endgültige Entscheidung fällen kann.
2.3.2.2 Einwertige Ansätze auf dem unvollkommenen Kapitalmarkt
Bei der simultanen Betrachtung von Finanzierungs- und Investitionsvorgängen führt im Ein-
Perioden-Fall unter der Prämisse der Sicherheit das Dean-Modell zu einer eindeutigen
Lösung. Hierbei werden sowohl die Finanzierungs- als auch die Investitionsalternativen
nach ihren internen Zinsfüßen geordnet und als Kapitalnachfrage- und Kapitalangebotskurve gezeichnet. Der Schnittpunkt dieser beiden Kurven legt das optimale Investitions- und
Finanzierungsprogramm fest.62 Im Mehr-Perioden-Fall ist ein lineares Programm aufzustellen, das die Finanzierungs- und Investitionszahlungsströme in Liquiditätsrestriktionen
berücksichtigt.
Mit Hilfe von sogenannten Ersatzmodellen kann die Unsicherheit der Zahlungsströme in
linearen Programmen berücksichtigt werden. Im Chance-Constrained-Modell sind nur
diejenigen Alternativen zulässig, die mit einer vom Entscheidungsträger vorgegebenen
(Mindest-)Wahrscheinlichkeit die jeweiligen Restriktionen erfüllen. Im Fraktilmodell
entscheidet man sich für die Alternative, die bei einer festgelegten (Mindest-)Wahrscheinlichkeit den höchsten Zielfunktionswert hat.
60 Vgl. Kruschwitz, Lutz: Investitionsrechnung. 12. Aufl., München 2009, S. 318-319 und S. 323-324.
61 Vgl. Kruschwitz, Lutz: Investitionsrechnung. 12. Aufl., München 2009, S. 324.
62 Vgl. Bieg, Hartmut: Betriebswirtschaftslehre 1: Investition und Unternehmungsbewertung.
2. Aufl., Freiburg i. Br. 1997, S. 132-137.
2 Überblick über die Finanzierungstheorie24
2.3.3 Die Kapitalmarkttheorie
Die Modelle der Kapitalmarkttheorie basieren auf der Prämisse des vollkommenen Kapitalmarktes, „insbesondere der Informationseffizienz, wonach alle Marktteilnehmer den
gleichen Informationsstand [haben; d. Verf.] und die Kaufentscheidung ... sich als rationales
Abwägen der Informationen mit den Präferenzen des Anlegers“63 darstellt. Sie berücksichtigen die Unsicherheit der Rückflüsse aus den Investitionen, operieren jedoch mit starken
Restriktionen (Prämissen). So werden die Ziele der Kapitalgeber und -nehmer auf die wesentlichen Aspekte Risiko und Rendite von Finanzierungstiteln reduziert. Für eine kapitalaufnehmende Unternehmung stellt sich somit das Problem, Anlagemöglichkeiten anzubieten, die möglichst viele, i. d. R. risikoscheue Kapitalgeber ansprechen. Die Aufnahme eines
Finanztitels in ein Portfolio wird gemäß der Portfolio-Theorie dann erfolgen, wenn seine
erwartete Rendite die Rendite sicherer Anlagen um eine ausreichend hohe Risikoprämie
übersteigt.64
Modigliani/Miller untersuchten den Einfluss des Verschuldungsgrades auf den Unternehmungswert.65 Sie haben unter bestimmten Prämissen bewiesen, dass der Wert einer
Unternehmung durch Veränderungen der Kapitalstruktur nicht beeinflusst wird. Diese Aussage basiert auf der Erkenntnis, dass gleiche Güter auf einem vollkommenen Markt im
Gleichgewicht denselben Preis haben.66 Die Aussage von Modigliani/Miller wird durch das
Wertadditivitätstheorem verallgemeinert. Die Wertadditivität als Eigenschaft einer Bewertungsfunktion im Kapitalmarktgleichgewicht besagt, dass die Summe zweier isoliert
bewerteter Zahlungsströme der Bewertung der Summe dieser Zahlungsströme entspricht.67
Damit lässt sich u. a. widerlegen, dass eine an den Risikopräferenzen der Kapitalgeber
ausgerichtete Finanzierungsstrategie einer Unternehmung den Marktwert aller ausgegebenen Finanzierungstitel und damit den Marktwert der Unternehmung selbst maximiert, denn
die Finanzierungstitel können lediglich einen gegebenen Finanzmittelstrom aufteilen (Irrelevanz jeder Finanzierungsmaßnahme).
63 Steiner, Manfred/Kölsch, Karsten: Finanzierung – Zielsetzungen, zentrale Ergebnisse und Entscheidungsmöglichkeiten der Finanzierungsforschung. In: Die Betriebswirtschaft 1989, S. 417.
64 Vgl. Hax, Herbert/Hartmann-Wendels, Thomas/Hinten, Peter von: Moderne Entwicklung der
Finanzierungstheorie. In: Finanzierungs-Handbuch, hrsg. von Friedrich W. Christians, 2. Aufl.,
Wiesbaden 1988, S. 691-692; vgl. dazu Bieg, Hartmut/Kußmaul, Heinz: Investitions- und Finanzierungsmanagement. Band III: Finanzwirtschaftliche Entscheidungen. München 2000, Abschnitt 2.2.2.
65 Vgl. Modigliani, Franco/Miller, Merton H.: The Cost of Capital, Corporation Finance and the
Theory of Investment. In: American Economic Review 1958, Vol. 48, S. 261-297; vgl. auch (als
deutsche Übersetzung): Kapitalkosten, Finanzierung von Aktiengesellschaften und Investitionstheorie. In: Die Finanzierung der Unternehmung, hrsg. von Herbert Hax und Helmut Laux, Köln
1975, S. 86-119; vgl. dazu Bieg, Hartmut/Kußmaul, Heinz: Investitions- und Finanzierungsmanagement. Band III: Finanzwirtschaftliche Entscheidungen. München 2000, Abschnitt 1.2.3.
66 Vgl. Schmidt, Reinhard H./Terberger, Eva: Grundzüge der Investitions- und Finanzierungstheorie.
4. Aufl., Wiesbaden 1997, S. 252; vgl. dazu Bieg, Hartmut/Kußmaul, Heinz: Investitions- und Finanzierungsmanagement. Band III: Finanzwirtschaftliche Entscheidungen. München 2000, Abschnitt 1.2.3.
67 Vgl. Hax, Herbert/Hartmann-Wendels, Thomas/Hinten, Peter von: Moderne Entwicklung der
Finanzierungstheorie. In: Finanzierungs-Handbuch, hrsg. von Friedrich W. Christians, 2. Aufl.,
Wiesbaden 1988, S. 703.
2.4 Die Neo-institutionalistische Finanzierungstheorie 25
Beim Capital Asset Pricing Model68 handelt es sich um ein statisches Gleichgewichtsmodell, das die Preise, die Preisverhältnisse und die Renditen von Finanzierungstiteln am
Kapitalmarkt bestimmt. Voraussetzung ist, dass die Marktteilnehmer homogene Erwartungen haben und sich entsprechend den Erkenntnissen der Portfolio-Theorie entscheiden,69
d. h. „daß die risikoscheuen Kapitalanleger den Erwartungswert des Nutzens der unsicheren
Zahlungen, die ihnen aus den Finanzierungstiteln ihres Portfolios zufließen, maximieren
wollen.“70
Der Arbitrage Pricing Theory geht es um die eindeutige Bestimmung des Preises eines
Finanzierungstitels ohne Kenntnis der Präferenzstrukturen der Anleger und ohne die Annahme homogener Erwartungen,71 indem durch Kombination anderer Finanzierungstitel
(Duplizieren) ein äquivalentes Portfolio hergestellt werden kann; Voraussetzung ist lediglich, dass sich der Kapitalmarkt im Gleichgewicht befindet, d. h. keine Arbitragemöglichkeiten mehr bestehen (Arbitragefreiheit).72
2.4 Die Neo-institutionalistische Finanzierungstheorie
Die Neo-institutionalistische Finanzierungstheorie hat ihren Betrachtungsschwerpunkt auf
der Komponente Übertragungsvorgang (B), vor allem auf den Transaktions-, Informationsund Opportunitätskosten. Dagegen werden die Ziele der Kapitalgeber und Kapitalnehmer
(A) weitgehend, der Marktzusammenhang (C) völlig vernachlässigt. Die Begründung ist
darin zu sehen, dass allenfalls einige Teilmärkte für Finanztitel den Prämissen des vollkommenen Marktes genügen; dagegen herrscht häufig – als ein wesentliches Kennzeichen
des unvollkommenen Marktes – Informationsasymmetrie zwischen den Kapitalgebern und
Kapitalnehmern. Sie verursacht zusätzliche Kosten, weshalb die Einschaltung von Finanzintermediären zur Überbrückung dieser Hindernisse notwendig wird.
Die Principal-Agent-Theorie73 untersucht die Finanzierungsbeziehung zwischen den
Vertragspartnern mit dem Ziel, deren Interessen weitestgehend in Einklang zu bringen.74 In
68 Vgl. Bieg, Hartmut/Kußmaul, Heinz: Investitions- und Finanzierungsmanagement. Band III:
Finanzwirtschaftliche Entscheidungen. München 2000, Abschnitt 2.2.3.
69 Vgl. Franke, Günter/Hax, Herbert: Finanzwirtschaft des Unternehmens und Kapitalmarkt.
5. Aufl., Berlin u.a. 2004, S. 351; vgl. dazu Bieg, Hartmut/Kußmaul, Heinz: Investitions- und Finanzierungsmanagement. Band III: Finanzwirtschaftliche Entscheidungen. München 2000, Abschnitt 2.2.2.
70 Hax, Herbert/Hartmann-Wendels, Thomas/Hinten, Peter von: Moderne Entwicklung der Finanzierungstheorie. In: Finanzierungs-Handbuch, hrsg. von Friedrich W. Christians, 2. Aufl., Wiesbaden
1988, S. 696-697.
71 Vgl. Kruschwitz, Lutz: Finanzierung und Investition. 5. Aufl., München/Wien 2007, S. 144.
72 Vgl. Hax, Herbert/Hartmann-Wendels, Thomas/Hinten, Peter von: Moderne Entwicklung der
Finanzierungstheorie. In: Finanzierungs-Handbuch, hrsg. von Friedrich W. Christians, 2. Aufl.,
Wiesbaden 1988, S. 699-700, S. 702.
73 Vgl. hierzu Richter, Rudolf/Furubotn, Eirik G.: Neue Institutionenökonomik. 3. Aufl., Tübingen
2003, S. 173-182; 224-263.
74 Vgl. Perridon, Louis/Steiner, Manfred: Finanzwirtschaft der Unternehmung. 14. Aufl., München
2007, S. 523-524.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nach einer allgemeinen Einordnung der Finanzierung von Unternehmen werden die einzelnen Instrumente der Außen- und Innenfinanzierung mit ihren theorie- und praxisrelevanten Merkmalen vorgestellt und mit zahlreichen Beispielen untermauert. Darüber hinaus wird auf Finanzinnovationen und Finanzderivate eingegangen.
Einführendes Lehrbuch in die Grundlagen der Unternehmensfinanzierung
Behandelt werden theoretische wie praxisrelevante Fragestellungen.
Grundprinzipien und Bestandteile der Finanzwirtschaft
Finanzierungstheorie
Finanzierungsarten
Außenfinanzierung durch Eigenkapital
Außenfinanzierung durch Fremdkapital
Derivative Finanzinstrumente
Innenfinanzierung^.
Prof. Dr. Hartmut Bieg ist Inhaber des Lehrstuhls für Bankbetriebslehre an der Universität des Saarlandes.
Professor Dr. Heinz Kußmaul ist Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Steuerlehre und Entrepreneurship am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, an der Universität des Saarlandes.
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