Monetäre Quantifizierung von
Reputationsrisiken
Pragmatischer Ansatz zur Unterstützung des
Risikomanagements
Christian Wicenec, Hennig Niemann und Olfa Chakroun
Dr. Christian Wicenec ist
Director Risk Reduction
Management (RRM) der
PAUL HARTMANN AG.
Hennig Niemann, M.Sc.,
ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl
Unternehmensrechnung und Controlling
der Technischen Universität Dortmund.
Dipl.-Kffr. Olfa Chakroun
ist Absolventin der
Technischen Universität
Dortmund.
Stichwörter
Issues
Issues Management
Reputationsrisiken
Risikomanagement
Risikoquantifizierung
Die zunehmende Bedeutung des Managements von Reputationsrisiken in
einer von Medien geprägten Welt wirft die Frage nach deren Bewertung
auf, um sie in das Risikoportfolio eines Unternehmens adäquat integrieren
zu können. Abweichend von heutigen qualitativen Bewertungsansätzen
können die Auswirkungen eines Issues mittels der hier vorgestellten
A.R.C.T.I.C.-Formel monetär bestimmt werden.
........................................................
1. Ausgangslage und Ziel
........................................................
Das Risikomanagement in Unternehmen
hat eine wachsende Bandbreite von Themen abzudecken, die Abweichungen von
Unternehmenszielen erzeugen können.
Hierzu gehören in Zeiten des Web 2.0
und der Social Media zunehmend auch
„weiche“ Risiken, sog. Issues, die aber die
Reputation eines Unternehmens nachhaltig schädigen können. Issues und die
mit ihnen verbundenen Reputationsrisiken stellen für das Risikomanagement
eine neue Herausforderung dar, da ihre
Auswirkungen bislang nur unzureichend
quantifiziert werden können. Dies steht
einer vergleichenden Bewertung von Issues mit monetär quantifizierten Unternehmensrisiken innerhalb eines modernen Risikomanagementsystems entgegen
und erschwert so eine angemessene Relevanzeinschätzung und Steuerung der Issues. Um eine Brücke zwischen der monetären Risikobewertung und den „weichen“ Risiken zu schlagen und letztlich
eine einheitliche Darstellung und Einschätzung des Risikogesamtportfolios
eines Unternehmens zu ermöglichen, soll
im Folgenden ein monetärer Issue-Bewertungsansatz dargestellt werden.
........................................................
2. Issues und Issues Management
........................................................
Seit den Anfängen des Issues Managements (vgl. Ansoff, 1980, S. 131 f.) hat
sich der Begriff des Issues in Deutschland
wenig verbreitet und beschränkt sich
meist auf das Fachvokabular der Kommunikationsabteilungen in den Unternehmen. Hierzulande wurde in den vergangenen Jahren vorwiegend der umfassendere Begriff des Reputationsmanagements und dessen positive Auswirkung
auf den Unternehmenserfolg intensiv
kommuniziert (vgl. Neujahr/Merten,
2012, S. 64 f.). Beide Managementansätze
sind jedoch eng miteinander verknüpft
und betrachten zwei Seiten eines Themas. Anders als das Reputationsmanagement, zielt Issues Management weniger
auf den Ausbau als auf den Erhalt einer
bestehenden positiven Reputation und
kann damit unter dem Gesichtspunkt des
„Reputationsrisikomanagements“ gesehen werden (vgl. Guterman/Seibel, 2009,
S. 173 f.). Durch diesen Blickwinkel existieren wiederum thematische Verknüpfungen zum klassischen Risikomanagement eines Unternehmens, die zur verbesserten Einschätzung der unternehmerischen Risikosituation genutzt werden
sollten (vgl. Wicenec, 2009, S. 218 f.).
Eine direkte treffende Übersetzung des
Issue-Begriffes lässt sich nur schwer finden. Am ehesten triff die Bezeichnung
„Dissensthema“ zu. Issues sind emotionsgeladen, lassen extrem differente Interpretationen eines Sachverhaltes zu
(Ambiguität), erzeugen nicht selten Bedrohungsängste und unterliegen einem
individuellen, Stakeholder-abhängigen
Wertekatalog. Beispiele sind Themengebiete wie etwa Tierschutz, Gesundheitsschutz, Umweltschutz und ethisch-soziales Verhalten. Die verschiedenen Dissensparteien sind gleichermaßen von der
Richtigkeit ihrer Sichtweisen überzeugt.
Die Issue-Definition des Issues Management Councils stellt diese unterschied-
11
25. Jahrgang 2013, Heft 1
Functional
Performance
Ethical
Conduct
Emotional
Appeal
Zielerfüllung
Verhalten Ästhetik
[Zeit]
[Öffentliche
Aufmerksamkeit]
Compliance
Management
Berichte
Massenmedien
Issue
Management
Krisenmanag.
Latenzphase Emergenzphase
Krise Regulationsphase
administrative
Regulation
Ereignis
Abb. 1: Kompetenzdreieck – Kompetenzfelder eines Unternehmens
Abb. 2: Public Issue Attention
lichen Stakeholderpositionen im Rahmen
einer Issue-Situation dar: „An issue exists
when there is a gap between stakeholder
expectations and an organization’s policies, performance, products or public
commitments.” (Issues Management
Council, 2012). Demnach ergeben sich Issues aus der ungenügenden Übereinstimmung von Handlungen einer Organisation mit der (öffentlichen) Erwartungshaltung. Das Reputationsmodell des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich beschreibt drei grundsätzliche Reputationsfelder, in denen Erwartungen existieren:
Funktionale Reputation, soziale Reputation und expressive Reputation (vgl. Eisenegger/Imhof, 2007, S. 1 f.). Issues wären
somit gefühlte oder reale Defizite in
Kompetenzfeldern der funktionalen Performance, des ethischen/sozialen/ökologischen Verhaltens oder des emotionalen
Gefallens eines Unternehmens (vgl.
Abb. 1), die den drei Unternehmensreputationsfeldern zugrunde liegen.
Die drei Kompetenzfelder sind für Unternehmen, je nach Branche, Geschäftsmodell und Strategie von unterschiedlicher
Bedeutung. Daraus folgt, dass jedes Unternehmen individuell die sensiblen
Kompetenzfelder identifizieren muss, um
potenzielle Issues richtig zu bewerten. Die
grundsätzliche Gefahr für das Unternehmen, die aus der Dissenssituation eines
Issues erwächst, liegt in dem aufgebauten,
z. T. extremen Eskalations- und damit
Schadenspotenzial. Dieses ist im zeitlichen
Verlauf eines Issues jedoch nicht konstant.
Der aktuell registrierbare Eskalationsgrad
richtet sich nach der Größe der öffentlichen Aufmerksamkeit. Abhängig von der
öffentlichen Aufmerksamkeit sind unterschiedliche Phasen der Issue-Entwicklung
zu unterscheiden (vgl. Abb. 2).
Einer zum Teil jahrelangen Latenzphase
ohne Öffentlichkeitsinteresse folgt in vergleichsweise kurzer Zeit eine durch ein
Ereignis eingeleitete Emergenzphase, die
sich zur Krise ausweiten kann. Im Allgemeinen schließt sich eine Regulationsphase an, in der eine legislative oder juristische Nachbehandlung des Themas
erfolgt. Die Aufgabe des Issues Managements ist es nun, diejenigen Themengebiete, die ein Dissenspotenzial besitzen,
zu identifizieren und den Dissens mit geeigneten Methoden so weit wie möglich
zu minimieren.
........................................................
3. Issuesbewertung im Rahmen
des Risikomanagements
........................................................
Der internationale Industrieversicherungsmakler AON befragte 2011 CFOs,
Treasurer und Risikomanager von 990
Organisationen rund um den Globus,
welche Risiken (qualitativ wie quantitativ) sie für besonders bedeutend halten.
Überraschenderweise stellte sich heraus,
dass die Gefahr eines Reputationsschadens Platz vier des Surveys der finanzorientierten Risikomanager einnimmt (vgl.
AON, 2011, S. 26). Auch zeigt der Survey
die Auswirkungen der fehlenden Messbarkeit von Issues in Form einer gefühlten Unsicherheit. 39 % der zahlenorientierten Befragten fühlen sich auf Reputationsrisiken schlecht vorbereitet. Bislang
stützen sich Issue-Bewertungen auf nicht
monetäre Scoringmodelle, die eine Medienresonanzanalyse (Intensität und Tonalität), die aktuelle Stakeholderkonstellation sowie eine Bewertung des Eskalationspotenzials beinhalten. Hieraus werden z. T. Reputationsindizes errechnet,
die als Indikator für Issues dienen können. Basis ist das Monitoring des Unternehmensumfeldes zur Ermittlung der
Meldungen zum jeweiligen Thema (vgl.
Eisenegger, 2008, S. 3 f.). Bei einer Bear-
12 RISIKOMANAGEMENT CONTROLLING-SCHWERPUNKT
CONTROLLING – ZEITSCHRIFT FÜR ERFOLGSORIENTIERTE UNTERNEHMENSSTEUERUNG
Abb. 3: Google Trends Suchbegriff „Fukushima“: Zunahme des Such-Interesses relativ zur Menge
an Nachrichten
beitung von Issues durch die Kommunikationsabteilung eines Unternehmens
reicht ein solcher Vorgang zur sinnvollen
Allokation der Abteilungsressourcen völlig aus. Geht es jedoch um eine Einordnung in das gesamte Risikoportfolio, fehlt
die gemeinsame Bewertungsbasis. Dies
schafft ein neues inhärentes Risiko: Meist
werden Issues als latente Problemfelder
nicht adäquat vom Risikomanagement
abgedeckt – und das bei einer beschleunigten Verfügbarkeit von Informationen
und dem immer intensiveren Informationsaustausch durch immer mehr beteiligte Personen, Faktoren, die die Bedeutung von Issues ansteigen lassen. Risikomanagement muss diesen veränderten
Rahmenbedingungen Rechnung tragen.
Eine Angleichung der Bewertungsgrundlage von Issues und Risiken ist erforderlich, um eine potenzielle Abweichung von
geplanten unternehmerischen Zielen charakterisieren zu können. Die monetäre
Quantifizierung, die sich bereits bei klassischen Risikothemen zur Objektivierung
der Risikodiskussion und Versachlichung
der Entscheidungsfindung als sinnvoll erwiesen hat, bietet sich dafür an.
........................................................
4. Einflussfaktoren auf die
Issue-Entwicklung
........................................................
Die Wahrnehmung und damit die Bedeutung und Bewertung von Issues ändert sich im zeitlichen Verlauf und je
nach aktueller Entwicklung (neue Details
eines Störfalls, neue publizierte Erkenntnisse etc.). Eine aktuelle Einschätzung
der Issue-Auswirkungen kann deshalb
nur temporär erfolgen. Zum Zeitpunkt t
wird ein Issue durch die jeweiligen Ausprägungen einer Reihe von situativen
Einflussfaktoren determiniert, auf die im
Folgenden näher eingegangen werden
soll.
Erfahrungen mit Issues in der Vergangenheit zeigen eine enge Verknüpfung von
öffentlicher Aufmerksamkeit und Issue-
Bedeutung. Diese Aufmerksamkeit wird
in Zeiten der medialen Reizüberflutung
vorwiegend durch die Intensität der Medienberichterstattung gesteuert. Als ein
Beispiel für die Richtigkeit dieser Ausgangshypothese sei die Katastrophe von
Fukushima angeführt, bei der die Intensität der Medienberichterstattung einen
Gradmesser für das Ausmaß der öffentlichen Aufmerksamkeit darstellt (vgl.
Abb. 3).
Neben der Intensität der medialen Berichterstattung spielt auch das Eskalationspotenzial eine Rolle für die monetäre
Bewertung eines Issues. Risiken sind für
Individuen umso schwerer einzuordnen
und für Unternehmen folglich umso
schwerer zu handhaben, je größer ihre
Komplexität, Unsicherheit und Ambiguität sind (vgl. Klinke/Renn, 2002,
S. 1085 f.). Komplexität bezeichnet dabei
die Schwierigkeit, kausale Zusammenhänge bezüglich des Risikoeintritts zu erstellen und diese zu quantifizieren. Unsicherheit bezieht sich dagegen auf die
Stärke möglicher Zweifel an der Gültigkeit der vermuteten Ursache-Wirkungs-
Zusammenhänge. Ambiguität wiederum
misst das Ausmaß der Variabilität möglicher und legitimer Interpretationsmöglichkeiten bezüglich ein und desselben
betrachteten Sachverhalts. Eine weitere
Dimension des Issue-Potenzials stellt das
Ausmaß an Kontrolle dar, welches die
Stakeholder gegenüber einem mit Risiken
behafteten Sachverhalt empfinden. Je weniger der Eintritt eines Risikos und dessen Konsequenzen durch eigene Handlungsmöglichkeiten und eigene Gegenmaßnahmen kontrolliert werden können, desto größer wird das individuelle
Risiko empfunden. (vgl. Jungermann/Slovic, 1993, S. 167 ff.).
Darüber hinaus ist für die Bewertung des
Issues auch die Allokation von Problemverantwortung (Responsibility) von Bedeutung. Nach der Attributionstheorie
kann das Ausmaß der Verantwortlichkeit
über die drei Dimensionen Konsistenz,
Konsens und Distinktheit gemessen werden (vgl. Orvis et al., 1975, S. 606 ff.). Dabei gibt die Konsistenz an, ob das beanstandete Verhalten in der Vergangenheit
bereits (ggf. sogar wiederholt) aufgetreten ist, inwieweit es sich also um systematische und für das Unternehmen charakteristische Verhaltensweisen handelt. Der
Konsens wiederum zeigt an, ob vergleichbare Unternehmen sich ähnlich verhalten
oder ob das Unternehmen ein individuelles Verhalten zeigt. Distinktheit bezieht
sich schließlich auf die Situationsabhängigkeit eines tatsächlichen oder empfundenen Fehlverhaltens des Unternehmens,
also auf die Frage, ob das Unternehmen
das monierte Verhalten generell oder nur
unter gewissen Umständen (z. B. während einer Wirtschaftskrise) an den Tag
legt. Während ein hohes Maß an Konsistenz mit früherem Unternehmensverhalten zu einer hohen Verantwortlichkeitsattribution führt, ist bei einem hohen Konsens mit dem Verhalten anderer Unternehmen das Gegenteil der Fall. Auch ein
hohes Maß an Distinktheit führt dazu,
dass ein als negativ empfundenes Verhalten eher als Ausnahme denn als Regelzustand wahrgenommen wird. Zur Messung der drei Attributionsdimensionen
(vgl. Abb. 4) kann ein Scoringverfahren
verwendet werden (vgl. Schwarz, 2010,
S. 58 f.).
Ein weiterer Einflussfaktor ist das Ausmaß an Vertrauen, das die beteiligten
Dissensparteien, d. h. das betroffene Unternehmen auf der einen und die Stakeholder auf der anderen Seite, in der Öffentlichkeit genießen. Je weniger Vertrauen der Unternehmung entgegengebracht
Monetäre Quantifizierung von Reputationsrisiken 13
25. Jahrgang 2013, Heft 1
0 1
Konsens
Individualregelverstoß
Gruppenregelverstoß
0 1
Konsistenz
Einzelner
Regelverstoß
Ständiger
Regelverstoß
0 1
Distinktheit
Übliches
regelwidriges
Verhalten
Regelwidriges
Verhalten nur
unter besonderen
Umständen
Abb. 4: Verantwortlichkeitsanteile des Issue-Verursachers aus dem Blickwinkel der betroffenen
Stakeholder
wird und je stärker das Vertrauen zur Gegenpartei ausgeprägt ist, umso schwieriger ist es für Unternehmen, der eigenen
Position Gehör zu verschaffen und umso
schwieriger (und kostenintensiver) gestaltet sich das Issue. Angaben über solche Vertrauensmaße können beispielsweise Reputationsumfragen wie dem
Edelman Trust Barometer ˆ entnommen
werden (vgl. Edelman, 2012). Alternativ
eignen sich auch eigene Medienresonanzanalysen, die besser an die individuellen
Anforderungen des Unternehmens angepasst werden können.
Schließlich muss auch berücksichtigt
werden, welcher Teil der reputationsrelevanten Kompetenzbasis des Unternehmens durch den öffentlichen Dissens betroffen ist. Innerhalb der drei Kompetenzdimensionen verfügt jedes Unternehmen über eine individuelle Kombination
von Kompetenzen mit unterschiedlicher
Rangfolge und Gewichtung der einzelnen
Felder. Die Auswirkungen eines Issues
hängen für ein Unternehmen davon ab,
ob der Dissens eine für die Unternehmensreputation wesentliche Kernkompetenz oder ein weniger wichtiges Randthema betrifft. So dürften unethische Geschäftspraktiken bei Unternehmen, deren
Produkte mit der Einhaltung hoher ökologischer und/oder sozialer Standards beworben werden, zu einem stärkeren
Stakeholder-Dissens führen als bei Unternehmen, die sich vorwiegend durch
funktionale Produkte und ein günstiges
Preis-Leistungs-Verhältnis auszeichnen.
Für die Bewertung eines Issues ist es daher notwendig, die Bedeutung der einzelnen Kompetenzfelder für die eigene Unternehmung individuell zu bewerten und
identifizierte Dissensthemen einem der
Kompetenzfelder zuzuordnen. Auch hierfür kann ein Scoringverfahren verwendet
werden.
Als zentraler Faktor zur Berechnung des
Issue-Wertes muss der maximal betroffene finanzielle Erfolg der Unternehmensaktivitäten berücksichtigt werden. Hierbei ist es zweckmäßig, auf die in Risikoberichterstattung und Controlling des
Unternehmens etablierte maßgebliche
Erfolgsgröße zurückzugreifen. Zur sachlichen Abgrenzung können etwa räumliche oder organisatorische Kriterien verwendet werden, die konkreten Finanzzahlen sind dem aktuellen Plan zu entnehmen.
In diesem Zusammenhang sei darauf
hingewiesen, dass der vorgeschlagene Bewertungsansatz ausschließlich darauf abzielt, die bisher nicht quantifizierbaren,
„weichen“ Kosten eines Dissensthemas
abzuschätzen, wie sie etwa durch einen
möglichen Reputationsverlust entstehen.
Dagegen werden weitere Folgekosten wie
Geldstrafen, Schadensersatzzahlungen
oder Aufwendungen zur Beseitigung von
Umweltschäden nicht abgebildet und
müssen separat bestimmt und additiv berücksichtigt werden. Sie können im Einzelfall den Verlust durch den Reputationsschaden um ein Vielfaches überschreiten.
........................................................
5. Monetärer Bewertungsansatz
A.R.C.T.I.C.
........................................................
Im Folgenden wird ein Ansatz zur monetären Issue-Bewertung beschrieben, der
empirische Modellanteile, Scorings und
öffentlich zugängliche Mediendaten miteinander verbindet. Es handelt sich um
eine vereinfachende Näherung, die dem
Praktiker im Risikomanagement hilfreich
erscheinen dürfte. Wie bereits in Abschnitt 4 erwähnt, variiert die Issue-Bedeutung im Zeitverlauf, so dass auch die
monetäre Bewertung nicht konstant ist.
Sie stellt eine Momentaufnahme zu
einem fixierten Zeitpunkt dar, die zu diesem Zeitpunkt einen Vergleich mit anderen Risiken zulässt.
Eine Messung der öffentlichen Aufmerksamkeit (Attention; At) kann zu einem
Zeitpunkt t indirekt durch die Ermittlung der Intensität der Medienberichterstattung erfolgen. Diese ergibt sich als
Quotient aus der Anzahl an Nennungen
des Issue-Themas (SRIssue) und der Anzahl der Nennungen des jeweiligen Top-
Themas (SRTop-News) aus den Trefferergebnissen der News-Suchfunktion gängiger
Suchmaschinen (vgl. hierzu und zum
Folgenden Abb. 5).
Die Verantwortlichkeit des Issue-Auslösers (Responsibility; R) wird durch das
arithmetische Mittel der Scoring-Werte
(zwischen 0 und 1) für Konsistenz, Konsens und Distinktheit abgebildet. Der
Aufbau der Formel trägt der Tatsache
Rechnung, dass hohe Werte für Konsistenz zu einer vermehrten Verantwortlichkeitsattribution führen, während bei hohen Werten für Konsens und Distinktheit
das Gegenteil eintritt.
Die betroffene Kompetenzbasis (Competence basis affected; Cba) berechnet sich
als Quotient des Scorings der vom Issue
tangierten Kompetenzbasis (Werte zwischen 0 und 1) und dem Gesamtwert aller drei Kompetenzfelder (Wert 1).
14 RISIKOMANAGEMENT CONTROLLING-SCHWERPUNKT
CONTROLLING – ZEITSCHRIFT FÜR ERFOLGSORIENTIERTE UNTERNEHMENSSTEUERUNG
Abb. 5: Formelansatz zur Quantifizierung von Issues zum Zeitpunkt t
Abb. 6: Beispiel der Issue-Quantifizierung anhand der BSE-Krise; Werte analog in Formeln der
Abb. 5 eingesetzt
Die Messgröße für Vertrauen (Trust; T)
kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen
und berücksichtigt die Tatsache, dass sich
ein hohes Vertrauen in die gegnerische
Dissenspartei negativ für das eigene Unternehmen auswirkt.
Analog zu der Berechnung der Verantwortlichkeit des Issue-Auslösers wird
auch das Issue-Potenzial (Issue Potential; I) berechnet, wobei die Scoring-Werte für Komplexität, Unsicherheit, Ambiguität und Kontrolle zwischen 0 und 1
liegen.
Der betroffene Umsatz (Revenues concerned; CR) ist der geplante Umsatz des
betroffenen Produktsegments oder der
betroffenen Geschäftseinheit, kann aber
auch auf ganze Branchen angewandt
werden.
Der vorgeschlagene Bewertungsansatz
basiert auf der Annahme, dass ein umso
größerer Teil des gefährdeten Segmentumsatzes tatsächlich verloren geht, je ungünstiger die anderen Faktoren für das
Unternehmen sind (hohe Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, hohe Verantwortungsallokation, Kernkompetenz betroffen, geringes Vertrauen, hohes Issue-Potenzial) und vice versa. Dies kann durch
eine multiplikative Verknüpfung der einzelnen Komponenten abgebildet werden,
woraus sich die A.R.C.T.I.C.-Formel zur
Berechnung des monetären Issue-Wertes
ergibt.
........................................................
6. Quantifizierung eines Issues:
Beispiel BSE-Krise
........................................................
Im November 2000 wurde der BSE-Erreger erstmals in einem geschlachteten
Rind deutscher Herkunft gefunden. Dadurch wurde großes Aufsehen, Angst und
eine breite öffentliche Diskussion möglicher Gesundheitsgefährdungen durch
(Rind)Fleischverzehr ausgelöst. Die
schlagartige Kaufzurückhaltung der Konsumenten verursachte bei Unternehmen
der Wertschöpfungskette von Fleisch und
Wurstwaren erhebliche Umsatzverluste
und führte zu einer Branchenkrise.
Durch den o. g. monetären Bewertungsansatz kann versucht werden, den potenziellen Branchenverlust zum Zeitpunkt t
beispielhaft zu quantifizieren. Hierfür
werden die einzelnen Komponenten mit
Hilfe von Scorings, empirischen Modellanteilen und öffentlich zugänglichen Mediendaten (Suchmaschinenergebnisse,
Edelman Trust Barometer ˆ etc.) ermittelt
und in die A.R.C.T.I.C.-Formel eingesetzt
(vgl. Abb. 6).
Die indirekte Berechnung der öffentlichen Aufmerksamkeit durch die Berechnung der thematischen Bedeutung
von BSE in der Medienberichterstattung
über den Zeitraum von 16 Monaten zeigt
einen fast idealtypischen Verlauf der Attention-Kurve (vgl. Abb. 7).
Beispielhaft sei für die folgende Berechnung der Attention-Wert im November
Monetäre Quantifizierung von Reputationsrisiken 15
25. Jahrgang 2013, Heft 1
0,69
0
0,1
0,2
0,3
0,4
0,5
0,6
0,7
0,8
Jun
00
Jul
00
Aug
00
Sep
00
Okt
00
Nov
00
Dez
00
Jan
01
Feb
01
Mrz
01
Apr
01
Mai
01
Jun
01
Jul
01
Aug
01
Sep
01
[Zeit]
Abb. 7: Verlauf der Aufmerksamkeitskurve anhand des Beispiels der BSE-Krise
des Jahres 2000 gewählt (0,69). Die Verantwortung der fleischerzeugenden und
-verarbeitenden Industrie wird im Beispiel mit den Scoring-Werten 0,7 für die
Konsistenz, 0,5 für den Konsens und 0,2
für die Distinktheit belegt.
Unter Anwendung des Kompetenzdreiecks wird die durch das Issue tangierte (Branchen-)Kompetenz bewertet. Im
Beispiel wird fiktiv davon ausgegangen,
dass die funktionale Performance mit
einem Wert von 0,7, das ethische Verhalten mit 0,2 und das emotionale Gefallen
mit 0,1 bewertet wurden. Das Issue stellt
die funktionale Performance in Frage, so
dass ein Wert von 0,7 in die Gesamtformel einfließt.
Das öffentliche Vertrauen gegenüber Unternehmen und gegenüber Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wird im
Beispiel mit Hilfe der Umfragewerte des
Edelman Trust Barometers ˆ im Sommer
2001 festgelegt (vgl. Edelman, 2003). Diese Werte betragen für Business = 0,32
und für NGOs = 0,48. Damit bestand
während der BSE-Krise bereits eine
asymmetrische, für die Unternehmen
nachteilige Vertrauensverteilung.
Das Issue Potential wird für das Beispiel
auf Basis folgender fiktiver Scoringwerte
ermittelt: Komplexität = 1, gefühlte Unsicherheit = 0,9, Ambiguität = 0,8 und
Kontrollmöglichkeit durch den Verbraucher = 0,2.
Aus der Literatur lässt sich ein geplanter
Umsatz mit Rindfleischprodukten in
Deutschland im Jahre 2001 von 4,6 Mrd.
DM ableiten (vgl. Auer, 2001).
Aus den genannten Ausgangswerten errechnet sich ein potenzieller Umsatzverlust im November 2000 von 760 Mio.
DM. Das Gesamtpotenzial des Issues (Pg)
ohne Berücksichtigung einer temporären
öffentlichen Aufmerksamkeit hätte demnach rechnerisch 1,1 Mrd. DM betragen
(vgl. Abb. 6). Zusätzlich zu dem oben errechneten Umsatzverlust müssen Folgekosten berücksichtigt werden, die insbesondere die Entsorgung von Fleisch und
Tiermehl sowie zusätzliche BSE-Tests
umfassten. Diese zusätzlichen ökonomischen Folgekosten der Krise durch Entsorgung und behördliche Auflagen wurden damals mit mehr als 2 Mrd. DM veranschlagt.
........................................................
7. Praktischer Einsatz und Fazit
........................................................
Im Jahr 2003 wurde in der PAUL HART-
MANN AG ein Issues-Management-System entwickelt, das sich an die Best-Practice-Vorgaben des Issues Management
Councils (vgl. Issues Management Council, 2012) anlehnt und dabei den individuellen Anforderungen des Unternehmens Rechnung trägt. Die Integration
dieses Systems in das Gesamtrisikomanagementsystem (Risk Reduction Management) im Jahre 2007 erforderte eine
einheitliche Bewertungsbasis, bei der Issues analog zu den Unternehmensrisiken
quantitativ erfasst und monetär mit diesen verglichen werden können. Da die
hier geschilderte Abschätzung der Issue-
Auswirkungen durch den Zugriff auf öffentlich zugängliche Informationen erfolgt und die für ein Issue bedeutenden
Parameter abdeckt, erweist sie sich aktuell als ein gut nutzbares, pragmatisches
Hilfsmittel zur Unterstützung des Risikomanagements im Unternehmen. Dabei
ist der Anwendungsbereich nicht auf Issues beschränkt. Beispielsweise lässt sich
auf die geschilderte Weise auch der Reputationsschadensanteil eines operationalen
Unternehmensrisikos ermitteln, eine Vorgehensweise, die eine exaktere Risikoquantifizierung ermöglicht. Eine weitere
Verfeinerung des Ansatzes ist geplant.
Keywords
Issues
Issues mangement
Reputational risks
Risk management
Risk quanification
Summary
The increasing importance of managing reputational risks in a media permeated world raises the question of
their measurement for integrating
them adequately in the risk portfolio
of a company. In contrast to currently
prevailing qualitative assessment approaches, the impact of an issue can
be determined monetarily using the
A.R.C.T.I.C. formula presented in this
paper.
Literatur
Ansoff, H. I., Strategic Issues Management,
in: Strategic Management Journal, 1. Jg.
(1980), S. 131–148.
AON, Global Risk Management Survey 2011,
http://insight.aon.com/?elqPURLPage=6067,
Stand: 16.06.2012.
Auer, J., Auswirkungen der BSE-Problematik
auf ausgewählte Branchen, in: Deutsche
Bank Research, Nr. 198, Frankfurt am Main
2001, S. 2–11.
Edelman, Edelman Trust Barometer 2012
Executive Summary, http://trust.edelman.
16 RISIKOMANAGEMENT CONTROLLING-SCHWERPUNKT
CONTROLLING – ZEITSCHRIFT FÜR ERFOLGSORIENTIERTE UNTERNEHMENSSTEUERUNG
Ungewohnte Einblicke
Strategische Steuerung in
öff entlichen Institutionen
Politische Ziele – Strategieentwicklung –
Erfolgsfaktoren
Von Prof. Dr. Bernhard Hirsch,
Prof. Dr. Dr. h. c. Jürgen Weber, Robert Huber,
Celina Gisch und Dr. Mathias Erfort
2013, XII, 153 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen,
€ (D) 32,95, ISBN 978-3-503-14408-2
Steuerung & Controlling in öff entlichen Institutionen
Kostenfrei aus dem deutschen
Festnetz bestellen: 0800 25 00 850
Der Frage, wie eine langfristige, auf konkrete Ziele und
Wirkungen ausgerichtete strategische Steuerung in der
öff entlichen Verwaltung Gestalt annehmen kann, widmete
sich der hochkarätige Arbeitskreis „Steuerung und Controlling
in öff entlichen Institutionen“ mit seinem zweiten Jahresthema.
Dem in das Regierungsprogramm „Vernetzte und transparente Verwaltung“ der Bundesregierung aufgenommenen
Arbeitskreis gehören neben renommierten Wissenschaft lern
hochrangige Vertreter aus 17 Bundes- und Landesbehörden an.
Weitere Informationen:
www.ESV.info/978-3-503-14408-2
Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG · Genthiner Str. 30 G · 10785 Berlin
Tel. (030) 25 00 85-265 · Fax (030) 25 00 85-275 · ESV@ESVmedien.de · www.ESV.info
Steuerung & Controlling in
öffentlichen Institutionen
com/trust-download/executive-summary/,
Stand: 17.06.2012.
Eisenegger, M., Issue Monitoring, fög discussion papers 2008–0003, Universität Zürich
2008.
Eisenegger, M./Imhof, K., Das Wahre, das
Gute und das Schöne: Reputations-Management in der Mediengesellschaft, fög discussion papers 2007–0001, Universität Zürich
2007.
Guterman, S./Seibel, M., Reputationsmanagement als Langzeitindikator für den Erfolg
von Unternehmen, in: Kalt, G./Kinter, A./
Kuhn, M. (Hrsg.), Strategisches Issues Management, Frankfurt 2009, S. 212–222.
Issues Management Council, Best Practice
Indicators, http://issuemanagement.org/
learnmore/best-practice-indicators/, Stand:
17.06.2012.
Issues Management Council, Professional
Standards, http://issuemanagement.org/
learnmore/professional-standards/, Stand:
16.06.2012.
Jungermann, H./Slovic, P., Die Psychologie
der Kognition und Evaluation von Risiko,
in: Bechmann, G. (Hrsg.), Risiko und Gesellschaft, Opladen 1993, S. 167–207.
Neujahr, E./Merten, K., Reputationsmanagement, in: prmagazin, o. Jg. (2012), H. 6,
S. 60–67.
Orvis, B./Cunningham, J./Kelley, H., A Closer
Examination of Causal Inference: The Roles
of Consensus, Distinctiveness, and Consistency Information, in: Journal of Personality
and Social Psychology, 32. Jg. (1975), H. 4,
S. 605–616.
Schwaiger, M./Raithel S./Scharf, S./Rinkenburger, R., Erfolgsfaktor Reputation: Steuerung eines immateriellen Werttreibers, in:
Controlling, 22. Jg. (2010), H. 2, S. 89–95.
Schwarz, A., Die Wahrnehmung von Unternehmen als Krisenverursacher, in: prmagazin, o. Jg. (2010), H. 8, S. 58–63.
Wicenec, C., Risk Reduction Management, in:
Kalt, G./Kinter, A./Kuhn, M. (Hrsg.), Strategisches Issues Management, Frankfurt 2009,
S. 212–222.
Monetäre Quantifizierung von Reputationsrisiken 17
25. Jahrgang 2013, Heft 1
Abstract
The increasing importance of managing reputational risks in a media permeated world raises the question of their measurement for integrating them adequately in the risk portfolio of a company. In contrast to currently prevailing qualitative assessment approaches, the impact of an issue can be determined monetarily using the A.R.C.T.I.C. formula presented in this paper.
Zusammenfassung
Die zunehmende Bedeutung des Managements von Reputationsrisiken in einer von Medien geprägten Welt wirft die Frage nach deren Bewertung auf, um sie in das Risikoportfolio eines Unternehmens adäquat integrieren zu können. Abweichend von heutigen qualitativen Bewertungsansätzen können die Auswirkungen eines Issues mittels der hier vorgestellten A.R.C.T.I.C.-Formel monetär bestimmt werden.
References
Abstract
Month by month, Controlling - Zeitschrift für erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung publishes peer-reviewed, applied research contributions for business management, accounting and reporting. Key elements of succesful corporate controlling are presented in an analytic, well-structured manner.
Language: German.
For more information for authors and subscribers, see www.zeitschrift-controlling.de.
Zusammenfassung
Die Controlling - Zeitschrift für erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung liefert Monat für Monat fundierte und anwendungsorientierte Fachbeiträge für das Management sowie das Finanz- und Rechnungswesen in Unternehmen. Klar gegliedert und strukturiert werden für alle Controlling-Bereiche die Faktoren für eine erfolgreiche Unternehmenssteuerung aufgezeigt.
Weitere Informationen für Autoren und Abonnenten finden Sie unter www.zeitschrift-controlling.de.