Kognitive Verzerrungen bei der
Wahrnehmung von Risiken
Peter Gordon Rötzel
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1. Relevanz der Risikowahrnehmung für das Controlling
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Die Analyse, Bewertung, Kommunikation und Steuerung von Risiken wird oftmals durch das Controlling unterstützt
oder selbst durchgeführt. Der Umgang
mit Risiken ist geprägt durch mögliche
kognitive Verzerrungen und subjektive
Bewertungen der beteiligten Personen. So
zeigen empirische Studien aus der betriebswirtschaftlichen und psychologischen Forschung bei der Risikowahrnehmung einige Verhaltensmuster von Entscheidungsträgern auf, die sich durch
Heuristiken (sog. „Daumenregeln“) erklären lassen. Der Einsatz dieser Heuristiken ist evolutionär bedingt und ermöglicht es Menschen, durch einen sparsamen Umgang mit begrenzten kognitiven
Ressourcen in kurzer Zeit zu einer Bewertung zu kommen (vgl. Renn et al.,
2007). Der Einsatz von Heuristiken führt
allerdings häufig dazu, dass die von Entscheidungsträgern geschätzte Eintrittswahrscheinlichkeit von Risiken sehr stark
von der objektiven statistischen Eintrittswahrscheinlichkeit abweicht (vgl. Hertwig/Wulff, 2014).
Die bisherige Forschung zu kognitiven
Verzerrungen bei der Wahrnehmung von
Risiken bezieht sich oftmals auf die
„Neue Erwartungstheorie“, welche Daniel
Kahneman und Amos Tversky als eine
psychologisch realistischere Alternative
zu der bis dahin vorherrschenden Erwartungsnutzentheorie entwickelten, da letztere das Verhalten von Entscheidungsträgern vielfach nicht zuverlässig vorhersagt.
Ein Kern der Neuen Erwartungstheorie
besteht darin, dass viele Entscheidungen
unter Unsicherheit von kognitiven Verzerrungen (engl. „biases“) beeinflusst
werden. Hinsichtlich der Risikoforschung
haben experimentelle Untersuchungen
beispielsweise ergeben, dass
Entscheidungsträger lieber Risiken
eingehen, um einen bekannten Status
quo zu erhalten, als in eine unsicherere, aber wahrscheinlich vorteilhaftere
Situation zu gelangen
Entscheidungsträger ihre eigenen
Kenntnisse und ihr Verständnis der Situation oft deutlich überschätzen
visuelle Information die Wahrnehmung von Risiken stärker beeinflusst
als Textinformation
bekannte Risiken gegenüber unbekannten Risiken übergewichtet werden
(vgl. Kahneman, 2011).
Die Wahrnehmung von Risiken ist oftmals stärker von den kognitiven Verzerrungen des Entscheidungsträgers geprägt
als von objektiven Wahrscheinlichkeiten.
Darüber hinaus unterscheiden sich diese
kognitiven Verzerrungen teilweise erheblich in verschiedenen Kulturkreisen. Internationale Projekte und Unternehmungen können folglich von unterschiedlichen Bewertungen ihrer Manager betroffen sein, wenn diese aus verschiedenen Kulturkreisen stammen (vgl. Kahan
et al., 2009).
Gegenstand des vorliegenden Beitrages
ist es, eine Übersicht über die Rolle von
kognitiven Verzerrungen der Risikowahrnehmung in der Risikoanalyse und in der
Risikokommunikation zu geben.
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2. Kognitive Verzerrungen der
Risikowahrnehmung in der
Risikoanalyse
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Risikoanalysen werden zur Risikoidentifikation und Risikobewertung genutzt,
um im Rahmen des Risikomanagements
wahrscheinlichen negativen Ereignissen
mit Präventionsmaßnahmen zu begegnen. Diese Präventionsmaßnahmen können beispielsweise darauf abzielen, Risiken zu vermeiden, zu reduzieren oder auf
Dritte abzuwälzen. Eine Auswahl an beispielhaften kognitiven Verzerrungen der
Risikowahrnehmung in der Risikoanalyse
findet sich in Abb. 1.
In empirischen Studien wurde nachgewiesen, dass Entscheidungsträger in vielen Fällen dazu neigen, Risiken kategorisch zu unterschätzen oder zu ignorieren. Darüber hinaus haben Entscheidungsträger in Projekten oftmals das
Problem der Rechtfertigung von Vermeidungskosten für Risiken und das Problem der Bestimmung der Kosten (vgl.
Kutsch/Hall, 2009), sodass das Risikocontrolling zunehmend an Bedeutung gewinnt. Eine mögliche Gegenmaßnahme
zur systematischen Unterschätzung von
Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe wäre die Einführung des Vier-
Augen-Prinzips. Hierbei erfüllt das Controlling neben der Sicherung der Ergebnis-, Finanz- und Strategietransparenz
auch die Sicherung der Risikotransparenz
(vgl. Schreckeneder, 2010).
Die Wahrnehmung der Risiken bei der
Risikoanalyse scheint allerdings, einer experimentellen Studie zu Investitionsentscheidungen von March/Shapira (1992)
folgend, auch stark davon abhängig zu
sein, ob geliehene oder eigene Ressourcen
genutzt werden. Entscheidungsträger
wiesen hier eine wesentlich höhere Risikobereitschaft für geliehene Ressourcen
auf als für in ihrem Eigentum befindliche
Ressourcen. Bei Investitionsentscheidungen können Entscheidungsträger also dazu tendieren, mit geliehenem Kapital höhere Risiken einzugehen als mit eigenem
Kapital. Darüber hinaus scheint die Höhe
der eingesetzten Ressourcen eine Auswirkung auf die Wahrnehmung des Risikos
zu haben. Je weniger Ressourcen eingesetzt wurden, desto höher war die Risikobereitschaft. Umgekehrt sank die Risikobereitschaft, je mehr Ressourcen eingesetzt wurden (vgl. March/Shapira, 1992).
Darüber hinaus scheinen die Art des Risikos und die mit dem Risiko verbundene
Schadenshöhe einen maßgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung des Risikos
zu nehmen. Empirische Studien zeigen,
dass bei seltenen Ereignissen mit großer
Schadenshöhe die Wahrscheinlichkeit in-
320 CONTROLLING-COMPACT
CONTROLLING – ZEITSCHRIFT FÜR ERFOLGSORIENTIERTE UNTERNEHMENSSTEUERUNG
Kognitive Verzerrung Mögliche Auswirkungen
auf das Controlling
Mögliche
Gegenmaßnahmen
Systematische Unterschätzung von
Eintrittswahrscheinlichkeit und
Schadenshöhe
Falsche Risikostrategie wird gewählt
(z. B. Risikoakzeptanz statt
-verlagerung)
Sicherung der Risikotransparenz über
mehrere Personen vornehmen
(Vier-Augen-Prinzip)
Vermeidungskosten für Risiken
werden überschätzt
Potenzielle Risiken werden zu spät
gesteuert („Feuerwehr“-Taktik)
Stärkeres Monitoring von potenziellen
Risiken
Risikobereitschaft für geliehene
Ressourcen höher als für eigene
Ressourcen
Fehlallokation von geliehenem
Kapital in risikoreiche Investments
Sicherung der Risikotransparenz über
mehrere Personen vornehmen
(Vier-Augen-Prinzip)
Kurzfristige Ereignisse werden
gegenüber langfristigen
Entwicklungen übergewichtet
Systematische Unterschätzung
langfristiger Risiken
Trennung der Einschätzung von
kurzfristigen und langfristigen Risiken
Abb. 1: Kognitive Verzerrungen der Risikowahrnehmung in der Risikoanalyse
tuitiv als nahe Null eingeschätzt wird, obwohl sie aus statistischer Sicht deutlich
höher liegt. Ferner zeigt sich auch das
Phänomen, kurzfristige Ereignisse gegen-
über langfristigen Entwicklungen überzugewichten (vgl. Kahneman, 2011). Auf
die Risikoanalyse in Unternehmen bezogen bedeutet dies, dass Entscheidungsträger Risiken, welche die Existenz des Unternehmens bedrohen, oftmals gegenüber
anderen Risiken untergewichten könnten. Eine mögliche Gegenmaßnahme wäre eine Trennung der Risikoanalyse von
kurzfristigen und langfristigen Risiken.
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3. Kognitive Verzerrungen der
Risikowahrnehmung in der
Risikokommunikation
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Die Kommunikation von Risiken, beispielsweise über Risikoberichte oder Risikoanalysen, hat zum Ziel, Entscheidungsträger und andere Stakeholder für Risiken zu sensibilisieren (vgl. Brühwiler,
2011). Jedoch können sich die genannten
kognitiven Verzerrungen bei einer Risikokommunikation deutlich erhöhen, da
hier nicht nur der Entscheidungsträger
kognitiven Verzerrungen unterliegt, sondern auch beispielsweise der Bereitsteller
von Risikoinformationen. Eine Auswahl
an beispielhaften kognitiven Verzerrungen der Risikowahrnehmung in der Risikokommunikation findet sich in Abb. 2.
Den größten Einfluss auf die Risikowahrnehmung hat im Kontext der Risikokommunikation das Vertrauen des Entscheidungsträgers in den Informationsbereitsteller. Dieses Vertrauen wird empirischen Studien zufolge nur zu einem geringen Anteil durch die Expertise des Informationsbereitstellers beeinflusst. Das
wahrgenommene Eigeninteresse des Informationsbereitstellers, Offenheit und
gemeinsame Werte spielen eine größere
Rolle für das Vertrauen in den Informationsbereitsteller als seine Expertise bezüglich der Risiken. Eine wirksame Gegenmaßnahme kann ein regelmäßiger
persönlicher Austausch der beteiligten
Akteure sein (vgl. Slovic/Peters, 2006).
Darüber hinaus kann auch die Abfolge
von negativen und positiven Informationen über den Bereitsteller von Risikoinformationen für die Analyse des Risikos
relevant sein. Empirische Studien zeigen,
dass es eine asymmetrische Wirkung von
Information über Risiken auf das Vertrauen in den Informationsbereitsteller
gibt („trust asymmetry”). So scheinen
Entscheidungsträger negative Informationen über den Informationsbereitsteller
(z. B. Fehler in den Daten, verspätete Lieferung des Berichts) gegenüber positiven
Informationen (z. B. pünktliche Lieferung der Informationen, Exaktheit und
Verständlichkeit des Berichts) überzugewichten. Es bedarf nur wenig negativer
Information über den Bereitsteller, um
das Vertrauen in diesen deutlich zu reduzieren. Je niedriger das Vertrauen in den
Informationsbereitsteller, desto niedriger
werden auch Eintrittswahrscheinlichkeit
und Schadenshöhe geschätzt. Umgekehrt
bedarf es sehr viel wiederholter positiver
Information, um das Vertrauen wieder
aufzubauen. Dies bedeutet, dass ein vereinzelter Irrtum, eine fehlerhafte oder zu
späte Berichterstattung eine deutlich stärkere Auswirkung haben als eine stetige,
korrekte Bereitstellung von Informationen. Dies trifft insbesondere auf Risiken
zu, die eine große Schadenshöhe und
eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit
besitzen. Eine mögliche Gegenmaßnahme wäre auch hier ein Vier-Augen-Prinzip, um den potenziellen Risiken transparent und rechtzeitig zu begegnen (vgl.
Rozin/Royzman, 2001).
Ferner kann sich die Art der Risikokommunikation stark auf die Einschätzung
von Entscheidungsträgern hinsichtlich
des Zeitpunkts, wann ein Eingreifen nötig ist, auswirken (vgl. McCubbins/
Schwartz, 1984). So kann eine ausgeweitete Risikokommunikation dazu führen,
Kognitive Verzerrungen bei der Wahrnehmung von Risiken 321
27. Jahrgang 2015, Heft 6
Kognitive Verzerrung Mögliche Auswirkungen
auf das Controlling
Mögliche
Gegenmaßnahmen
Vertrauen in Bereitsteller von
Risikoinformationen ist schneller
verloren als gewonnen
Risikoberichte werden nicht oder nur
am Rande zur Entscheidungsfindung
genutzt
Regelmäßiger persönlicher
Austausch der beteiligten Akteure
Entscheidungsträger greifen eher zu
spät als zu früh ein
Erkannte Risiken bleiben unbeachtet
bis sie realisiert werden
Sicherung der Risikotransparenz über
mehrere Personen vornehmen
(Vier-Augen-Prinzip)
Symbolisch dargestellte Risiken
werden übergewichtet
Hohe Kosten für Risikomaßnahmen
Ausgewogene Darstellung von
Risiken in Berichten
Abb. 2: Kognitive Verzerrungen der Risikowahrnehmung in der Risikokommunikation
dass Entscheidungsträger deutlich später
mit Risiken umgehen, als wenn die Risikokommunikation spärlich ist. Das heißt,
ein Risiko wird nicht vermindert, vermieden oder verlagert, obwohl ein Eingriff
nötig wäre. Dies gründet sich wesentlich
auf die systematische Unterschätzung des
Risikos hinsichtlich Eintrittswahrscheinlichkeit und Kosten durch die Entscheidungsträger und auf die systematische
Überschätzung der Kosten des proaktiven
Handelns. Je knapper die Risikokommunikation, desto früher beginnen Entscheidungsträger bei potenziellen Risiken
einzugreifen, jedoch kann dies auch dazu
führen, dass ein Risiko vermindert, vermieden oder verlagert wird, obwohl ein
Eingriff nicht nötig wäre. Das Ausmaß
der Kommunikation über Risiken kann
also auch einen Einfluss darauf haben,
wann Entscheidungsträger bei Risiken tätig werden. Daher sollte die Darstellung
von Risiken ausgewogen erfolgen (vgl.
McCubbins/Schwartz, 1984).
Hinsichtlich der Wahrnehmung von Risiken ist hierbei auch relevant, ob es sich
um erfahrungsbasierte oder beschreibungsbasierte Entscheidungen handelt
(vgl. Hertwig/Wulff, 2014). Wenn Risiken
mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit
über symbolische Informationen kommuniziert werden (z. B. rote Ampeln in
einem Risikobericht), so werden diese
tendenziell höher gewichtet. Bei sehr seltenen Ereignissen, mit denen Entscheidungsträger keine Erfahrungen haben
(z. B. der Ausbruch eines Vulkans), tendieren diese dazu, diese unterzugewichten (vgl. Hertwig/Wulff, 2014).
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4. Fazit
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Die Wahrnehmung von Risiken ist maßgeblich durch kognitive Verzerrungen beeinflusst. Diese treten nicht nur bei der
Analyse oder Bewertung des Risikos auf,
sondern auch in der Kommunikation
von Risiken. Hierbei überschätzen Entscheidungsträger oftmals ihren eigenen
Einfluss auf Zufallsereignisse und überschätzen die Eintrittswahrscheinlichkeit
von Risiken.
Kognitive Verzerrungen in der Risikowahrnehmung betreffen die Bereiche Risikoanalyse und Risikokommunikation
nicht nur unabhängig voneinander, sondern es bestehen auch Interdependenzen
zwischen den beiden Bereichen. So können beispielsweise Risikoanalysen für die
Kommunikation von Risikosituationen
verwendet werden, um die Risikowahrnehmung zu verbessern (vgl. Brühwiler,
2011).
Literatur
Brühwiler, B., Risikomanagement als Führungsaufgabe: ISO 31000 mit ONR 49000
wirksam umsetzen, Bern 2011.
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H. 11, S. 630–636.
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Kahan, B./Slovic, G./Cohen, M., Cultural
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(2009), H. 2, S. 87–91.
Kutsch, E./Hall, M., The Rational Choice of
not Applying Project Risk Management in
Information Technology Projects, in: Project
Management Journal, 40. Jg. (2009), H. 3,
S. 72–81.
March, J. G./Shapira, Z., Variable Risk Preferences and the Focus of Attention, in: Psychological Review, 99. Jg. (1992), H. 1,
S. 172–188.
McCubbins, M. D./Schwartz, T., Congressional
Oversight Overlooked: Police Patrols versus
Fire Alarms, in: American Journal of Political
Science, 28. Jg. (1984), H. 1, S. 165–179.
Renn, O./Schweizer, P.-J./Dreyer, M./Klinke,
A., Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit, München 2007.
Rozin, P./Royzman, E., Negativity Bias, Negativity Dominance, and Contagion, in: Personality and Social Psychology Review, 5. Jg.
(2001), H. 4, S. 296–320.
Schreckeneder, B. C., Projektcontrolling,
3. Aufl., Freiburg 2010.
Slovic, P./Peters, E., Risk Perception and Affect, in: Current Directions in Psychological
Science, 15. Jg. (2006), H. 6, S. 322–325.
Dr. Peter Gordon Rötzel, LL.M. ist Akademischer Rat und Habilitand am Lehrstuhl für
Controlling der Universität Stuttgart und
forscht u. a. zu Fragestellungen des Risikocontrollings.
322 CONTROLLING-COMPACT
CONTROLLING – ZEITSCHRIFT FÜR ERFOLGSORIENTIERTE UNTERNEHMENSSTEUERUNG
Chapter Preview
References
Abstract
Month by month, Controlling - Zeitschrift für erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung publishes peer-reviewed, applied research contributions for business management, accounting and reporting. Key elements of succesful corporate controlling are presented in an analytic, well-structured manner.
Language: German.
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Zusammenfassung
Die Controlling - Zeitschrift für erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung liefert Monat für Monat fundierte und anwendungsorientierte Fachbeiträge für das Management sowie das Finanz- und Rechnungswesen in Unternehmen. Klar gegliedert und strukturiert werden für alle Controlling-Bereiche die Faktoren für eine erfolgreiche Unternehmenssteuerung aufgezeigt.
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